Kindheit in den Alpen

10.09.2025

Kindheit in den Alpen, in einem kleinen Dorf auf rund 960 Meter Seehöhe: zwischen Sonnwendfeiern, Kirchgang und Maitanz. Wie lässt sich diese Erfahrung auf den Punkt bringen? 

Ein Begriff, zufällig aufgeschnappt vor ein paar Jahren, erscheind mir passend: Keltokatholizismus.

Keltokatholizismus

Als Kind am Land erlebst du unendliche Langeweile. Die Winter und Kältezeiten sind schier endlos lang, wenn du aus dem Fenster blickst, gähnen dich noch im Frühling schmutzige Schneeflecken an. Umso willkommener sind gemeinsame Festzeiten im Dorf: Um das Sonnwendfeuer sitzen, den Buben beim Zieharmonikaspielen zuhören, die Funken knistern hören.

Oder Kartoffeln auf Spiessen in Feuer halten nach dem gemeinsamen Heuen. Abends in der Badewanne stupft, spiesst und brennt es, weil das Heu die Haut an manchen Stellen gestochen hat.

Oder Blumenkränze winden und Vergissmeinnichtblätter zählen, «Er oder sie liebt mich, liebt mich nicht, liebt mich ...»

Unser Dorf schien mir besonders lebendig, wo sogeanntes «Brauchtum» oder «Folklore» im Spiel war; eigentlich zur Theatralität erstarrtes vormalige, vorchristliche Religiosität.

Folklorisierung

Folklorisierung ist ein wirksames Mittel der Neutralisierung spiritueller Energien.

Aber es lebte doch in uns weiter! Eingebunden in kirchliche und ausserkirchliche Feste, in Erntedankschmuck und Blumenkränze auf den Hörnern der Rinder beim Albabtrieb im Herbst.

Und im Schauspiel der furchterregenden Pärchtenumzüge, eingehegt durch den Heiligen Nikolaus - in dessen Konstüm steckte, wie wir wohl wussten, eine Nachbarin, an deren Haus wir beim Schulweg vorbeikamen - und seinen Engeln.

Ich, der Krampuss

Als Volksschülerin lief ich selbst mit Pärchtenmaske, Kuhglocken und Fell in der Dämmerung über die froststarren Wiesen, gemeinsam mit den Nachbarbuben. 

Anschleichen, laut läuten, Leute erschrecken.

Allerdings nur solange, nicht die «richtigen» Krampusse kamen; wenn es so weit war, verzogen wir uns auf sichere Holzbalkone in oberen Stockwerken von Gebäuden.

In der kleinen kühlen Kapelle in der Schattseite des Dorfes mit Oma in der Kirchbank sitzen und von Müdigkeit übermannt worden, der Kopf sinkt auf die Holzlehne, der Pfarrer legt das weisse Untergewandt mit Spitzen an, darüber die Soutane usw. 

Schafe und Bärte

Die Kapelle ist klein und verfügt über keine Sakristei. So geschieht die priesterliche Verwandlung vor unseren Augen.

Der Pfarrer ist zugleich mein Religionslehrer.

Ich übersetze zu Hause im Eigenauftrag jede biblische Geschichte, die er uns erzählt, in Zeichnungen: Viele Männer mit langen Bärten, Hirtenstäben und Schafen.

Träume vom Krieg

Mein Elternhaus, das inzwischen längst verkauft wird, ist seit meiner Kindheit Schauplatz meiner Kriegsträume, apokalyptische Szenen. In den Erzählungen der Alten, war der Krieg weit weg wie die Märchenwelt, «Es war einmal ... und es war furchtbar».

Erst viel viel später wurde mir klar: Ich bin eine Kriegsenkelin.

Der Hitlerismus ist einmal quer durchs Dorf gestiefelt. Deswegen !!! auch die auffällige Distanz vieler zu allem Glaubensförmigen, denke ich. Einmal Hitler geglaubt, später nichts mehr geglaubt!

Wenig Frömmigkeit, ausser bei alten Mütterchen mit Kopftüchern, die viel Härte und Enttäuschungen erlebten.

Neben Soldaten kamen Kriegsflüchtlinge ins Dorf und ins Haus meiner Grossmutter.