Wieso ich Bäume umarme

13.09.2025
Ich während der Coronazeit
Ich während der Coronazeit

Ich weiss: Manche lächeln über uns Bäumeumarmer:innen. Die Geste erscheint hoffnungslos romantisch ... 

Baumlebewesen ziehen uns magisch an. Häufig sind sie sehr viel älter als wir und harren gelassen auf ihren Plätzen aus, ertragen die Witterung und leiden unter der Klimaüberhitzung. 

Ich habe das Gefühl, dass sie, selbst wenn es ihnen nicht so gut geht, etwas von meiner inneren Spannung abnehmen können und abfliessen lassen.

Nie würde ich etwas in ihre Rinde einritzen. Liebesschwüre einritzen und dabei Baumlebewesen verletzen - was für ein merkwürdiger, gedankenloser Brauch.

Mit der Baumspiritualität in der Tiefe der Zeit aber hat mein individuelles Spannungsablassen wohl wenig zu tun. 

Bäume waren und sind in vielen traditionalen Kulturen heilig aus einem ganz bestimmten Grund: Sie gelten als Sitz der Ahnen.

Mit Bäumen reden

Unter anderem im afrikanischen Schamanismus wird zu bestimmten Bäumen ehrfürchtig gesprochen. Eric de Rosny berichtet darüber, ein französischer Anthropologe und Jesuit, der sich Mitte des 20. Jahrhunderts in westafrikanische Kulte einweihen liess («Les yeux de ma chèvre»). 

Das Reden mit Bäumen ist Kommunikation mit den Ahnen, als deren Sitz Bäume gelten, da die Wurzeln in die Unterwelt reichen - wo Körper verwesen, zu Humus werden und dann wiederum alles werden können: Pflanze, Tier, Mensch - und ihre Kronen in den Himmel, die Sphäre des Geistigen wachsen.

Sitz der Ahnen

Auf heiligen Bäumenn wandeln die Ahnen zwischen Unterwelt und Himmel hin und her.

Frühe christliche Missionare fällten heilige Bäume. Ein symbolischer Akt, der den Ahnenkult durchtrennt. In der transgenerationellen Traumaforschung unserer Tage aber ist wieder von Ahnen die Rede - und der Notwendigkeit, sich mit ihnen zu verbinden.

Animate Theologies unternehmen heute Revisionen und bewerten die Bedeutung des Animismus neu.

Bezüglich Christlicher Animismus und Revisionsbedürftigkeit der Theologie im Licht des Anthropozäns möchte ich auf meinen viel gehörten Podcast mit dem Bonner Theologen Andreas Krebs hinweisen: «Hat Schöpfungstheologie ausgedient». Er ist Mitbegründer des internationalen Netzwerks Transcending Species - Transforming Religion (TSTR).

Roots

Mein persönliches Verhältnis zu Ahnen: Im Januar 2019, beim Weihnachtsfest in einer orthodoxen Exilkathedrale: Ich zünde Kerzen für die Ahnen an, getrennt nach weiblicher und männlicher Linie. Da dämmert es mir, dass die väterliche Linie bei uns eine Leerstelle ist. 

Da war in der väterlichen Linie nichts, nur Nebel.

Ein halbes Jahr später, im Sommer 2019 - durch eine genealogische Genanalyse - dann die Entdeckung: Es gibt eine mehr als 70 Jahre lang in der Familie verschwiegene lettische Ahnenlinie (der Grossvater, ein Kriegsflüchtling, auf dem Weg nach Australien mit Zwischenstoff im österreichischen Alpendorf).

Zeichnung, Erna Dzelme-Kikure, 1945
Zeichnung, Erna Dzelme-Kikure, 1945


Plötzlich: Neue Tanten, neue Onkel, neue Angehörige. Die Vervollständigung unserer Geschichte. (Als ongoing prozess auch duch die Publikation der Beschreibungen und des Nachlasses von Erna Dzelme, die ihre Flucht mit Janis durch Europa und nach einem langen, harten Flüchtlingsdasein die Ausreise nach Australien beschrieben hat).

Das Gefühl von Heilung, nach jahrzehntelangem Familienschweigen. Erdung in einer Gegend, die während meiner Kindheit hinter dem Eisernen Vorhang lag.

Mir wurde klar: Das Schweigen war immer irgendwie spürbar gewesen, aber nicht erklärbar, es war anwesend als Abwesenheit, Anspannung, Verspannung, einander Verfehlen.

Malidoma Patrice Somé sagt zurecht: «Dinge sind umso lebendiger, je mehr sie vom Schweigen umgeben sind.»
Mein lettischer Grossvater Janis Dzelme und unsere Tanten Inese und Dzidra in der Zeit als Flüchtlinge in Stuttgart, vor der Überfahrt 1949 nach Australien.
Mein lettischer Grossvater Janis Dzelme und unsere Tanten Inese und Dzidra in der Zeit als Flüchtlinge in Stuttgart, vor der Überfahrt 1949 nach Australien.
Meine Mutter und ich, Anfang der 1970er
Meine Mutter und ich, Anfang der 1970er