Interspiritual Age

05.10.2023

Mit der Zunahme von religiösem Pluralismus, Mehrfach-Religiosität, Spiritual but not religious (SBNR) und der Herausbildung globaler Religionen stellt sich die Frage nach dem Trennenden und Verbindenden neu.

Von Johanna Di Blasi

[Erstmals erschienen in «Kunst und Kirche. Magazin für Kritik, Ästhetik und Religion» zu «Interspiritualtät», hg. Johanna Di Blasi, 2.2003]

"Jenseits von richtig und falsch gibt es einen Ort. Hier können wir einander begegnen", formulierte der persische Mystiker und Dichter Rumi. Dieser Satz schliesst eine grosse Weite ein. Diese ist wohl nötig, damit Kulturen, Religionen, aber auch Menschen einander in der Tiefe begegnen und voneinander lernen können, was auch heisst: (Ver-)Wandlung zulassen. Der Schweizer Jesuit und Zen-Meister Niklaus Brantschen ("Gottlos beten") sagt: "Mystik ist menschenmöglich" und "In der Mystik können wir uns begegnen".

Im Unterschied zur religionskritischen Moderne erfährt Spiritualität seit der Postmoderne grössere Wertschätzung, ausserhalb des religiösen Feldes fast noch mehr als innerhalb. Religionsstudien zeigen eine tendenzielle Aufwertung des Spiritualitäts- gegenüber dem oft mit Institutionalisierung und dogmatischer Enge assoziierten Religionsbegriff. Spiritualität wird häufig mit Öffnung, Weite und Freiwerden assoziiert. Dies macht den Begriff interessant auch für Künstler.

Spiritualität boomt - wieso?

Seit den 1990er-Jahren boomt Spiritualität zudem in der Wissenschaft. Disziplinen wie Psychologie, Kognititionswissenschaften oder Hirnforschung entdeckten mystische und spirituelle Phänomene als Forschungsgegenstand, sogar die Unio Mystica. Die Weltgesundheitsorganisation WHO erkennt Spiritualität neben der physischen, psychischen und sozialen als vierte, gleichrangige Dimension der Gesundheit an.

Gleichwohl bleibt Spiritualität[1] schwer zu fassen. Der Charme von Spiritualität und Mystik liegt in ihrem Potenzial, durch Entgrenzung zu verbinden. Gerade aus diesem Grund laufen die Begriffe aber auch Gefahr, jede geschichtliche und kulturelle Verortung einzubüssen.

Spiritualität ist zu fluid, um auf den Begriff gebracht, appropriiert oder identitär vereinnahmt zu werden. Sie ist nicht konfessionell, auch nicht religiös genug dafür.

Vor dem Hintergrund der Zunahme identitärer Tendenzen und Verzerrungen selbst postmoderner Einsichten ist die Frage nach tiefen interspirituellen Begegnungen virulenter geworden. In diesem Essay möchte ich die bislang noch kaum geläufige Bezeichnung interspirituality als Begriff ins Spiel bringen, der sowohl den Charakter der Fluidität oder "Opazität" (im Sinne von Édouard Glissant) der Spiritualität als auch kulturelle oder religiöse Verortung des Religiösen umfasst.

Eine so verstandene Interspiritualität impliziert unterschiedliche spirituelle Traditionen und betont gleichzeitig deren Überlappungen. Eine solche Interspiritualität hat die kulturenübergreifende Perspektive der komparativen Religions- und Mystikstudien verinnerlicht und weiss, dass Eigenes und Fremdes immer schon in eigenwilligen Fadenspielen verknüpft sind. Eine solche Interspiritualität interessiert sich für das Dazwischen als potenzielle Öffnung und Labor für verbindende Erfahrungen und spirituelle Innovationen.

Begriffsschärfung Interspiritualität

Der Begriff interspirituality wurde vom amerikanischen katholischen Mönch Wayne Teasdale (1945–2004) geprägt, der christliche, hinduistische und buddhistische Elemente verband. Teasdale setzte beim Befund spiritueller Interdependenz an und leitete, getragen vom intermonastic dialogical movement nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil, davon eine gemeinsame Verantwortung aller Menschen für den Planeten in allen "notwendigen Bereichen" ab:

"[…] peace, justice, human rights, animal and natural rights, ecological justice and wisdom, a more equal distribution of the earth's goods, a genuine respect for pluralism, and the essential need for transcendence or the development of our capacity for the Divine, which is actually a capacity for an all-inclusive love."[2]

Die feministische Theologin Ursula King ("Interfaith Spirituality or Interspirituality? A New Phenomenon in a Postmodern World", 2012) charakterisiert Interspiritualität als postmodernes Phänomen und Auseinandersetzung mit religiösem Pluralismus. Dazu gehören Mehrfach-Religiosität, Spiritual but not religious (SBNRs) oder in religiöse Traditionen Eingebettete, die offen bleiben für Einsichten, Erweckungen und Offenbarungen ausserhalb ihrer Tradition.

Hinsichtlich der Art interspiritueller Begegnung lassen sich unterscheiden: Erstens die Verbindung einer oder mehrerer spiritueller Traditionen; verkörpert durch Gestalten wie Wayne Teasdale oder seinen Lehrer Bede Griffiths (1906-1993), einem britischen Mystiker, Benediktinermöch und Ashramgründer, der in Indien westlich-christliche Mystik und buddhistische und hinduistische Spiritualität interspirituell und intraspirituell verschmolzen hat. Griffith inspirierte Vertreter:innen unterschiedlicher Religionen wie auch Menschen ohne Religionszugehörigkeit.[3]

Spiritual Care

Solche interspirituellen und interreligiösen Ansätze werden auch unter dem Begriff "interspiritual mysticism" oder "deep ecumenism" verhandelt. Zugrunde liegt die Vorstellung eines geteilten Bewusstseins hinter mystischer Kontemplation.

Im interspirituellen Verschmelzungsvorgang, so die Annahme, kann etwas entstehen, das etablierte Traditionen aller Beteiligten überschreitet.

Die zweite Begriffsverwendung betont den Aspekt des Postreligiösen und klingt in der WHO-Verwendung des Begriffs "Spiritualität" an. Postreligiös verstandene Interspiritualität ist weitgehend religions- und konfessionsungebunden, offen auch für atheistische oder agnostische Zugänge. Als "interspirituelle Seelsorge" unterstützt sie zeitgenössische Sinn- und Weisheitssuchende auf persönlichen und individuellen Wegen jenseits absoluter Wahrheitsansprüche, passend zu modernem Individualismus und postmoderner Multiperspektivität. Im Zuge von "Spiritual Care" offeriert eine so verstandene Interspiritualität Menschen ungeachtet ihres Glaubens oder Nicht-Glaubens Angebote von "Sense Making" und "Coping Strategies" in existenziellen Grenzsituationen und lässt auch Schatten und Zweifeln Raum.

Spiritual but not religious

Das "Rootledge Handbook of Religion, Spirituality and Social Work" (2019) streicht in seiner neuen, durch ein eigenes Kapitel zu Interspiritualität ergänzten Ausgabe den Aspekt von "Shared Experience" heraus, interreligiös, aber auch intergenerationell:

"[…] it is becoming evident that Inter-spirituality, as a reciprocal sharing of wisdom and contemplative gifts, in which the insights of a non-familiar tradition may help to affirm, deepen, and direct the other's journey."[4]

Interspiritualität, verstanden als eine von Religion losgelöste Spiritualität ("spiritual but not religious") – man könnte bei einer solchen frei schwebenden Form auch von "Transspiritualität" sprechen – lässt sich unterscheiden von einer dialektischen Interspiritualität, die Querverbindungen (auch zu Atheismus und Agnostizismus) zulässt und Kontakt zu Wurzeln hält.

Die Untersuchung von Interspiritualität ermöglicht es auch, problematische oder illegitime Übernahmen zu erkennen: wo marginalisierte Kulturen unterdrückt, ausgebeutet oder kulturelle Formen vereinnahmt wurden (z.B. indigene in Formen spiritueller Appropriation).

Dies geschah oft, ohne zu fragen oder Quellen zu nennen, auch durch Kunstheroen der Moderne. Formen, die wir nicht auf- oder übernehmen wollen (z.B. Pseudospiritualität, spirituelle Mimikri, Betrügerei) lassen sich ebenso in den Blick nehmen wie solche, die wir überaus nötig haben, aber erst entfalten müssen: zum Beispiel eine spirituelle Tiefenökologie, zu zugleich sensibilisiert und aktiviert.

Spiritual (In-)Justice

Interspiritualität erscheint als geeigneter Ort, um spirituell-fliessende, kulturenübergreifende Aspekte wie Hybridisierungen, Kreolisierung oder Synkretismen als genuine Ausdrucksformen von Spiritualität zu beobachten und "multiple religiöse Identität" (Perry Schmidt-Leukel) sowie Spiritual Diversity zu beschreiben. Zugleich ist Interspiritualität ein Ort, um Idiosynkrasien zu überwinden und spirituelle Wiedergutmachung (Spiritual Justice) zu leisten, insbesondere hinsichtlich von Formen, die im Zuge christlicher Missionierung abgewertet oder verteufelt wurden.

In Diskursen, gerade auch zeitgenössischen künstlerischen, wird das Christentum vielfach problematisch gesehen. Ein Grund sind die in ihren Details erst ansatzweise erforschten Verflechtungen von Kolonialismus und Missionierung.

Der katholische spanische Theologe und Kirchenhistoriker Mariano Delgado (Universität Fribourg) stellt fest, dass das Christentum lange Zeit blind war für spirituelle Formen, die nicht ins eigene Religionsschema passten, und schwere Fehler im Umgang mit Menschen anderer Religionen und Kulturen machte:

"Für eine Schamanenreligiosität, bei der Rauschkräuter, Zauberer und Tanz eine zentrale Rolle spielten, hatten die Europäer der Renaissance keinen Blick. Ihr Religionsbegriff hinderte sie paradoxerweise an der Wahrnehmung fremder Religiosität." [5; mit Mariano Delgado gibt es eine Episode in meinem Podcast.]

In der Esoterikwelle wurde nach einer Phase der säkularen Spiritualitätsvergessenheit wertvolle Grundlagenarbeit in einer spirituellen Wüste geleistet. Im Fokus stand vor allem die "Spiritualität der anderen" – oftmals in kritischer Abgrenzung zur christlichen Tradition. Die interspirituelle Perspektive macht, wo sie bestehen, auch christliche spirituelle Linien sichtbar.

Im Protestantismus, der von konfessionell bedingtem Verzicht auf Symbole und Riten geprägt ist, lässt sich heute eine regelrechte Sehnsucht nach spirituellen Formen beobachten. Hier ergibt sich Interspiritualität von selbst: durch den notwendigen Rückgriff und das Aufgreifen von Formen aus unterschiedlichen christlichen, aber auch anderen Traditionen, zum Beispiel des Buddhismus.

Ästhetik der Befreiung

"Per me spirituale corrisponde a estetico, non religioso."

(Pier Paolo Pasolini [6])

Interspiritualität als Möglichkeitsraum ausserhalb des Vertrauten und Abgesicherten ist ein interessantes Feld gerade auch für Kunst und Ästhetik. Es ist wenig bekannt, dass die Ästhetik als Wissenschaft der sinnlichen Erfahrung selbst christlich-spirituelle Wurzeln hat, noch dazu im als sinnenfeindlich geltenden Pietismus. Der Nährboden, aus dem heraus mit Alexander Gottlieb Baumbarten Ästhetik (von gr. "aísthēsis": "Wahrnehmung", "Empfindung") als eigene philosophische Disziplin begründete, war der Hallische Pietismus rund um August Hermann Francke. In dessen Waisenhaus und Lateinschule fand Baumgarten 1772 Aufnahme.

Säkulare Geschichtsschreibung hat diese Wurzel lange Zeit ausgeblendet. Jüngere Forschungen lenken den Blick darauf. Die Auswertung von Briefen, Tagebüchern und Dokumenten intellektueller Zirkel brachte ans Licht, dass im Gelehrtenkreis um den bedeutenden Theologen Francke auf "aisthesis" in Bezug auf die Erfahrung des Geistes Gottes durch die Lektüre der heiligen Schriften vielfach Bezug genommen wurde.

Romantischer Protestantismus

Mit der Betonung der Erfahrung des Religiösen – gegenüber einem vorwiegend intellektuell-theologischen Zugang; Halle war damals auch ein Zentrum der rationalistischen Theologie – wusste sich der Francke-Kreis nahe bei Martin Luther und dessen "sapientia experimentalis".

Ziel war das Erschliessen sinnlicher und inspirierter Zugänge zu religiösen Wahrheiten.

Die schwedische Theologin Jayne Svenungsson (Universität Lund) zeichnete in ihrem Referat "Romantic Theology. Retrieving the Radical Impulse of Aesthetic Protestantism" (2021)[7] Stränge einer ästhetischen Anthropologie nach, die vom Pietismus der Barockzeit über die Frühromantiker bis zu phänomenologischen und künstlerischen Ansätzen des 20. und 21. Jahrhunderts reichen. Svenungsson macht deutlich, dass die Skepsis gegenüber sinnlicher Erfahrung in Teilen des Protestantismus wie auch in der rationalistischen Wissenschaft und Philosophie überhaupt erst Räume öffnete für das systematische Nachdenken über Ästhetik. Während rationalistische Philosophen und Theologen die Unterdrückung der Affekte als Voraussetzung einer verbesserten Erkenntnis ansahen, war es in pietistischen Kreisen genau umgekehrt.

Wenn heute Ästhetik bezogen auf Kunst, Naturphänomene, Design oder Sport betrachtet wird, aber Spiritualität und Religion unerwähnt bleiben, liegt eine möglicherweise symptomatische Perspektivenverengung vor. Religion scheint nicht ins gängige Bild von ästhetischer Erfahrung zu passen. Dabei geht es doch gerade auch in der Religion und Spiritualität um die Kultivierung einer Fähigkeit zu staunen, zu imaginieren, sich ergreifen, überwältigen und verwandeln zu lassen.

Wenn wir die Begriffe der Erfahrung und Faszination stark machen, ermöglicht uns das die konstitutive Überschreitung kultureller, gesellschaftlicher und geschlechtlicher Bestimmungen und macht frei davon. Allerdings birgt es auch Risiken, wenn kulturelle Tabus gebrochen oder Moralvorstellungen zugunsten spiritueller Erweiterung geopfert werden.

Christoph Menke macht in seiner "Theorie der Befreiung" (2022) anhand der biblischen Dornbusch-Erzählung einen anderen Begriff von Freiheit stark, wo gerade das Gebot als radikale Befreiung erfahren und zum Ausgangspunkt der Erneuerung einer progressiven Gesellschaftskritik wird. Der Dornbusch, der brennt, aber nicht verbrennt, ist ein ästhetisches, aus der Alltagserfahrung herausfallendes Ereignis. Das Phänomen überschreitet das Verstehen und wird zum Weckruf, als zu der ästhetischen Wahrnehmung eine (innere) Stimme hinzutritt, die den Schauenden persönlich anruft: "Mose, Mose". Daraufhin macht sich Mose auf den Weg und befreit die Israeliten aus der Gefangenschaft ("Ägypten").

Begegnung im Fremdssein

Wir leben in einer Zeit, in der säkulare Verheissungen ebenso an Strahlkraft eingebüsst haben wie religiöse, in der sich die Hoffnung aus der Zukunft zurückgezogen hat und die dennoch nichts von ihrer Fragwürdigkeit verloren hat.

Interspirituelle Zugänge können ein Korrektiv sein sowohl gegenüber identitärer Engführung als auch gegenüber strengen Appropriationsverboten, die ebenfalls (spirituellen) Austausch unterbinden; beim einen Extrem aus Fremdenangst, beim anderen aus vorauseilender Angst, andere zu befremden.

Für Eric L. Santner ("Zur Psychotheologie des Alltagslebens") ist in Weiterführung von Gedanken Sigmund Freuds und Franz Rosenzweigs das Verbindende gerade die Fremdheit. Nach ihm strukturieren sich biblische Lebensformen um eine Öffnung zur Alterität herum, zur unheimlichen Fremdheit des Anderen als genau dem Ort einer Universalität-im-Werden.


[1] Aufgrund sehr unterschiedlicher Wurzeln, aus Neuplatonismus, Mönchswesen, Erweckungsbewegungen, Theosopie, Esoterik etc. wäre die Pluralformform wahrscheinlich angemessener, also Spiritualitäten.

[2] Wayne Teasdale, Interreligious Dialogue Since Vatican II. The Monastic Contemplative Dimension, Spirituality Today, Summer 1991, Vol. 43, No. 2, S. 119-133, Online: https://www.domcentral.org/library/spir2day/91432teasdale.html (zuletzt aufgerufen 18.03.2023)

[3] Siehe: Amanda Avila Kaminski, The Theological Aesthetics of Bede Griffiths: The Mystical as a Locus of Interspirituality, 2012, Onlinepublikation bei academia.edu. https://www.academia.edu/4644842/The_Theological_Aesthetics_of_Bede_Griffiths_The_Mystical_as_a_Locus_of_Interspirituality (zuletzt aufgerufen 18.03.2023)

[4] Flanagan, B./Zsolnai, L: Inter-spirituality and the renewal of social practices, in: The Routledge International Handbook of Spirituality in Society and the Professions, hg. Flanagan/Zsolnai, Abingdon, New Yorik 2019

[5] 11. August 2022 https://www.kath.ch/newsd/heikel-an-der-entdeckungsdoktrin-umgang-der-missionare-mit-anderen-religionen/ (zuletzt aufgerufen 18.03.2023). Mariano Delgado ist Professor für Mittlere und Neuere Kirchengeschichte an der Universität Fribourf und seit 2008 auch dort Direktor des Instituts für das Studium der Religionen und den interreligiösen Dialog.

[6] "Für mich korrespondiert Spiritualität mit Ästhetik, nicht mit Religion": Pier Paolo Pasolini, Kommentar aus dem Film "Sopralluoghi in Palestina", 1963. Passolini per il cinema, Tomi I, hg. Walter Siti, Mailand 2001, S. 666.

[7] Vortrag am 8. Juni 2021 in der Zoom-Konferenz "Radical Orthodoxies" der Theologischen Fakultät der Universität Bern.