Was ist Interspiritualität
🌿 «Interspiritualität bedeutet nicht, einen Eintopf aller möglichen religiösen Bewegungen zu kochen, sondern einerseits ein Bewusstsein für Verbindendes zu haben. Andererseits steht der Begriff auch für die Zwischenräume, die von denjenigen Glaubenden besiedelt werden, deren G*ottesbegriff so weit geworden ist, dass er scheinbar Widersprüchliches zu einen vermag.»
— Karen Anke Braun, interspirituelle Seelsorgerin/OneSpirit Interfaith Foundation
Begegnung im Dazwischen
Wie interreligiös bezeichnen auch interspirituell oder interfaith einen Austausch oder ein Dazwischen.
Während im interreligiösen Dialog Religionen resp. Religionsrepräsentanten miteinander in Austausch treten, geht es bei Interspiritualität um einen weiter und tiefer gefassten Austausch – auch jenseits und vor jeder Religion.
Interspiritualität kam als Begriff in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf, als neues Wort im Diskurs über Religion und Spiritualität.
Interspirituelles Zeitalter
Die Weite und Fähigkeit zur Inklusion macht Interspiritualität zu einem interessanten Begriff für das Nachdenken über spirituelle Formen, die zu unserer Gegenwart passen.
Im deutschsprachigen Raum ist der Begriff bisher nicht so geläufig, anders im angelsächsischen Raum. Er ist anschlussfähig an Spiritual Care und taucht heute auch im Feld der sogenannten freien Rituale auf, erschöpft sich aber nicht darin.
Spirituell, aber nicht religiös
Der interspirituelle Austausch kann zwischen spirituellen Traditionen erfolgen, aber auch Formen von «spirituell, aber nicht religiös» einbeziehen, also auch säkulare oder postsäkulare Spiritualität.
Intraspirituell dagegen bezeichent den spirituelle Dialog innerhalb von Individuen. Ich praktiziere morgens Yoga, bete abends und besuche am Wochenende ein schamanisches Retreat), oder auch das Phänomen der Mehrfachreligiosität (etwa bei multipler Prägung durch religiös verschiedene Eltern.
Wenn ich Tiere und Pflanzen als spirituelle Wesen ansehe, ist auch mit ihnen ein interspiritueller Kontakt denkbar, als interspiritueller interspecies dialogue.
Selbst technische Emanationen können potenziell Teil des interspirituellen Dialgos sein (Teilhard de Chardin, Ilia Delio).
Engagement für Frieden und Schöpfung
Als Schöpfer des Ausdrucks «Interspirituality» gilt Wayne Teasdale, ein amerikanischer Benediktinermönch. Der Begriff taucht erstmals in Teasdales 1999 erschienenen Hauptwerk «The Mytic Heart: Discovering a Universal Spirituality in the World's Religions» auf. Teasdale sprach auch von einem «Interspiritual Age».
Teasdale ist Schüler des legendären interreligiösen und intrareligiösen Pioniers Bede Griffiths. Dieser, ebenfalls ein Benediktiner, eröffnete Anfang der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen interspirituellen Ashram in Südindien. Griffiths verband inter- und intraspirituell meditative und kontemplative Einflüsse aus Christentum, Hinduismus und Buddhismus. Er zog neben religiösen auch nicht-religiöse Menschen an. Ebenso wie mein spiritueller Lehrer Niklaus Brantschen («Gottlos beten», «Du bist die Welt»), der Buddhist und Christ ist.
Der Begriff Interspiritualität entstammt dem Kontext von Interfaith Dialogue, tiefem Ökumenismus und New Monastizism.
Aus der universalen Verbundenheit leiteten die Väter der Interspiritualtiät eine Verpflichtung ab: sich für soziale Gerechtigkeit, Frieden und die Schöpfung einzusetzen.
Ökologische Theologie
Der protestantische Theologe Jürgen Moltmann griff die Idee in seiner «Ökologischen Theologie» auf. Moltmann spricht von «planetarischer» oder «kosmischer» Spiritualität. Er ist unter anderem beeinflusst von James Lovelocks und Lynn Margulis Beschreibung der Erde als lebendiger Organismus, als Gaia.
Gaia, als antike Göttin mit Blumenkleid; ihre Sphäre ist die Biosphäre. Ihre Komplementärfigur ist Chton, die Unterwelt, die Humuswelt, aus der Mensch, Tier und Pflanze erwächst und in die tote Körper eingehen.
Chton ist als Jenseitswelt auch Sitz der Ahnen. Chton ist jenseits von Raum und Zeit immer anwesend; und daher nicht einmal einen Atemzug weit entfernt. (Zum Ort der Ahnen und alten Zeitvorstellungen siehe: John S. Mbiti, African Religions and Philosophy).
Interspiritualität bringt also auch die Welt der Lebenden und der Toten in Beziehung, als Wechselverhältnis.
Verbindung in der Tiefe
Interspirituelle Zugänge können ein Korrektiv sein sowohl gegenüber identitärer Engführung als auch gegenüber strengen Appropriationsverboten, die ebenfalls (spirituellen) Austausch unterbinden; beim einen Extrem aus Fremdenangst, beim anderen aus vorauseilender Angst, andere zu befremden.
Beide Formen der Engführung sind Reaktionen auf Erfahrungen von Krise, Ängsten, Ratslosigkeit.
Interspiritualität verstanden nicht als Mischmasch oder Nivellierung, eröffnet alternative Möglichkeiten, nicht bei Unterschieden zwischen religiösen und spirituellen Traditionen und Kulturen anzusetzen, sondern bei Gemeinsamkeiten. Um sich in der Tiefe zu verbinden.
Dies gilt für Religionen, spirituelle Traditionen, aber auch für den mitmenschlichen Austausch.
Statt Unterschiede zu nivellieren, lädt Interspiritualität dazu ein, Gemeinsamkeiten zu vertiefen und so neue Formen spirituellen Miteinanders mit menschlichen und anders-als-menschlichen Wesen zu ermöglichen.
Postkoloniale Einsprüche
Die Vordenker der Interspiritualität (Griffiths, Teasdale) gaben im 20. Jahrhundert wertvolle Anstösse, in manchem aber blieben sie zeitverhaftet. Eine aufschlussreiche postkoloniale Kritik stammt vom amerikanischen Religionswissenschaftler Kenneth Rose, erschienen 2007 in «Hinduism Today». Dieser beschreibt eine Enttäuschungserfahrung:
When I began to research interspirituality, I was under the impression that it was a popular mystical movement that was trying to recast Christian theology as pluralistic. But it turns out that interspirituality is merely another form of Christian inclusivism that wants to recast as «truths in Christ» what it admires in other religions.
Am Ende ist alles igendwie christlich, ist überall der leidende, der erlösende, der kosmische Christus? Das wäre Vereinnahmung.
Die Herausforderung ist es, offen und lernfähig zu sein und zugleich Christ:in zu bleiben. Die Herausforderung ist es insbesondere, hinter Konzepte und Bilder zu gelangen - hierin bin ich wiederum bei Bede Griffiths, der überzeugt war:
Above all we have to go beyond words and images and concepts. No imaginative vision or conceptual framework is adequate to the great reality.
― Bede Griffiths, Benediktiner und Ashram-Gründer
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